Wenn der Industrie das Gas ausgeht

Lesen Sie den gesamten Artikel in der Badischen Zeitung vom 30.03.2022

Ökonomen und Politiker sind uneins über die möglichen Folgen eines Energieboykotts gegen Russland / Corona-Krise als Blaupause.

Zwei Pandemiejahre haben gezeigt, wie sich eine tiefe, unvorhergesehene Wirtschaftskrise einigermaßen bewältigen lässt. 2020 brach das deutsche Bruttoinlandsprodukt um fünf Prozent ein. Über solche Größenordnungen reden Ökonomen auch, wenn es um die Energielieferungen aus Russland geht. Strittig ist, ob man das dramatisch oder verkraftbar nennen soll.

Eine Gruppe von Wirtschaftsforschern, darunter Moritz Schularick von der Universität Bonn und die Leopoldina, die Akademie der Wissenschaften, sagt, ein Lieferstopp oder Energieboykott wäre "handhabbar". Die deutsche Wirtschaftsleistung breche vielleicht um drei Prozent pro Jahr ein. Die andere Seite, wie Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie in Düsseldorf, warnt vor einer Verharmlosung der Folgen. Die Wirtschaftskrise könne schon deshalb bitter werden, weil gleichzeitig die Inflation gefährlich anziehe. Müsste die Wirtschaft dauerhaft ohne Öl und Gas aus Russland auskommen, würde der entsprechende Umbau bis zu zehn Jahre dauern, meint das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.

Die Debatte findet auch auf politischer Ebene statt. Politiker der Union wie Norbert Röttgen und Wolfgang Schäuble fordern eine härtere Gangart gegenüber der russischen Regierung. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) prognostiziert dagegen Schäden "schwersten Ausmaßes", wenn man die russischen Energielieferungen schnell kappe. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnt, es könne"unglaublich viele Arbeitsplätze" kosten.

Aber wie war es in der Corona-Krise? Im April 2020 waren sechs Millionen Beschäftigte – ein Siebtel aller Arbeitnehmer – in Kurzarbeit. Im Durchschnitt 2020 arbeiteten drei Millionen Menschen kürzer als normal. Trotzdem stürzte das Land nicht in die Katastrophe, denn die Bundesregierung übernahm die Verluste. Im Prinzip kamen die ausgefallenen Löhne damals von der Bundesagentur für Arbeit, nicht von den Unternehmen. Das kostete 2020 und 2021 etwa 46 Milliarden Euro. Vielen Unternehmen ersetzte der Staat zudem Teile des Umsatzverlusts.

 


Sollten infolge einer Energiekrise sechs Millionen Beschäftigte arbeitslos werden und die Arbeitsagentur ihre Gehälter über die Kurzarbeiterregelung weiterzahlen, beliefen sich die jährlichen Kosten auf eine vergleichbare Größenordnung wie in der Pandemie. Hinzu kämen Entlastungen von Privathaushalten und Firmen wegen der weiter steigenden Energiepreise. Schon bis Februar 2022 haben die Preise kräftig angezogen, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte (Grafik). Unter dem Strich liefe das auf 100 bis 150 Milliarden Euro zusätzlicher Staatsschulden in diesem Jahr hinaus. 2023 könnte ein ähnlicher Betrag fällig werden. Zum Vergleich: Im laufenden Jahr will die Ampelkoalition sowieso neue Kredite von 200 Milliarden Euro aufnehmen.

Geht es also nur um zusätzliche Staatsschulden, mit denen sich der Energieboykott erkaufen ließe? "Eher nein", sagt Andreas Fischer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. "Einerseits kann es einige Jahre dauern, bis wir die Lücke beim Import von Erdgas schließen." Habeck hat in Aussicht gestellt, dass die Abhängigkeit vom russischen Gas 2024 überwunden sein könnte. Schon das wäre "ein Kraftakt", so Fischer.

Ludwigshafen ist größter Chemiestandort Europas


Zweitens hält der Ökonom "die potenziellen Folgen eines Energieboykotts für gravierender als die der Corona-Krise". Zwar war die Veranstaltungsbranche während der Pandemie weitgehend lahmgelegt. Darüber hinaus war aber keine andere Branche dauerhaft geschlossen. Dagegen warnt Michael Vassiliadis, Chef der Chemiegewerkschaft IG BCE, dass ohne Erdgas die gesamte Produktion bei BASF und weiterer Firmen in Ludwigshafen, dem größten Chemiestandort Europas, heruntergefahren würde. Das könnte "hunderttausende Arbeitsplätze kosten", so Vassiliadis.

"Wenn 50 Prozent des Gases fehlen, dann steht die Masse der Betriebe in der deutschen Industrie still", sagt Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall. Das liegt an der Bedeutung von Erdgas für die Fertigung. "Es dient als Energie für die Wärmeerzeugung, aber auch als Grundstoff für die Produktion, etwa von Ammoniak in der Düngerherstellung", erklärt Fischer vom IW. Viele Firmen könnten nicht mehr arbeiten, wenn die Vorprodukte fehlten. Allein die Chemie-, Ernährungs- und Metallindustrien kommen auf zusammen zwei Millionen Arbeitsplätze. Die Industriegewerkschaften Bau, Metall sowie Bergbau, Chemie, Energie forderten am Dienstag bereits schnelle Liquiditätshilfen des Bundes, um Insolvenzen zu verhindern.

Neben direkten ökonomischen Schäden könnte die steigende Staatsverschuldung langfristig Probleme bringen. Wegen der Schuldenbremse müssen die Kredite später getilgt werden, was den finanziellen Spielraum nachfolgender Generationen schmälert. Einen ähnlichen Effekt hätten steigende Zinsen. Gegenwärtige Krisen mit Schulden abzufedern, kann künftigen Wohlstand schmälern.

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